Hirnverbrannt durchs Vaterland

GesängePresse FotosFilm

Gesänge aus tausend und einer deutschen Nacht werden im Alten Theater schrill demaskiert.

VON THOMAS ALTMANN | 10.10.2009, Mitteldeutsche Zeitung

DESSAU/MZ – Auch wenn die deutsche Seele tief klingen möchte, nun steht sie zu ihrem Riss im Resonanzboden und tänzelt hirnverbrannt durchs Vaterland. Aber „davon geht die Welt nicht unter“ und wenn, dann taucht sie rücklings wieder auf: „Duvi du duvi duvi di ha ha ha“. Die zweite deutsche Republik in ihrem dritten Format wird sechzig Jahre alt. Das Fernsehen suchte gerade die schönsten Schlager, fand „Itsy bitsy“ oder anderes. Im Alten Theater wird das erweiterte heimatliche Liedgut gleich auf die Couch gelegt. „Gesänge aus tausend und einer deutschen Nacht“ (Regie Krzysztof Minkowski) verhandeln nach der Outdoor-Premiere in der vergangenen Woche nun taktlos Traumata in der geschlossenen Abteilung des Foyers.

Einen Anstaltstag lang darf das Publikum an deutschen Melodien, welche die deutsche Geschichte schrill illustrieren, lustvoll leiden. Frau Doktor Krompholz (Susanne Hessel) pfeift zur rhythmischen Morgengymnastik: „Jede Zelle an jeder Stelle, jede Zelle ist voll gut drauf!“ Schon der Therapiesong aus Guruhand zeigt süßlich dröge, wie offen die geschlossene Abteilung eigentlich ist. Willkommen im Irrenhaus zur Einzel-Therapie, welche en passant auch die Neuen im Schauspielensemble vorstellt. Einzig Mario Janisch ist in der Anstalt bekannt. Er gibt den endlich eingelieferten deutschen Saubermann, um den Text des Liedes über die grasgrüne Schönheit der DDR unversehens von links nach rechts zu schwenken. Im Fähnchen-Wechsel-Dich-Spiel der deutschen Geschichte passt eben vieles auf eine Melodie. Und Heino passt immer. Janisch besingt kernig die Haselnuss und liefert ein kerndeutsches Crescendo im Refrain.

Matthieu Svetchine lässt die Hosen runter, um als französischer Chansonnier ansteckend unangenehm abgestraft zu werden. Vorher verschluckte er die deutsche Romantik. Sein Schubert-Lied kommt beinah ohne Schubert aus. Und Wilhelm Müllers „Einsamkeit“ wird zweimal vorgeführt, mit französischem Akzent und gesamtdeutsch ohne alles, hoch komödiantisch. Wer mit einem Mutterkomplex beginnt, darf irr als Revolutionär enden? Jan Kersjes übergießt sich mit Benzin, und brennt die Geschichte von Marius van der Lubbe, der nach dem Reichstagsbrand von 1933 hingerichtet wurde, in die Anstalt. Vorher bot Kersjes eine entblößende Version von Rio Reisers „Der Traum ist aus“. Lisa Kudoke zeigt Bein und sich so launisch wie das Programm, unverschämt devot und maßlos ausdrücklich. Dann spielt da noch Frau Klose mit, die nicht zufällig im wahren Leben Karin Klose heißt. Schließlich teilt sie ganz authentisch und gesund Essen und blutende Gute-Nacht-Geschichten aus.

Halb Blaustrumpf halb Vamp verknüpft Susanne Hessel die Kehrseiten der Frau Doktor herrlich fraulich, bis sie bekennt: „Ich will keine Schokolade“, um sich das Zeug konsequent köstlich in den singenden Mund zu stopfen. Auch der Chor der Idioten klingt nahezu berufen, nicht erst zur coupletselig rasanten Zugabe „Meine Freiheit, deine Freiheit“ von Georg Kreisler. Aus der Kaiserhymne stieg Kersjes in lichte, knabenhafte Höhen, aus denen gut zu fallen ist, hinein in ein ohnehin klinisch rein gestaltetes Foyer, welches Ausstatter Konrad Schaller nahezu beauftragt, das Bild auf geschlossene Engelhemdchen und handelsübliche Unterhosen zu beschränken.

Die Musiker Benjamin Schultz und Oli Schneider leisten diskrete und solide Pflegedienste zur gellend brachialen Demaskierung der Gesänge. Und wenn es noch schriller wird, ahnt man, dass die deutsche Geschichte schwer zu überzeichnen ist. Am Ende singen alle noch einmal ostdeutsch: „Patienten voran!“ Da darf auch die herrische Frau Doktor, die nach fünf Schüssen heldenhaft langsam fiel, für ein kleines Solo auferstehen, entrückt, mit blutverschmiertem Mund.
Copyright © mz-web GmbH / Mitteldeutsches Druck- und Verlagshaus GmbH & Co. KG