Durch Dessau flattert die kleine weiße Friedenstaube

Mit „Gesängen aus Tausend und Einer deutschen Nacht“ startete das Anhaltische Theater in seine neue Spielzeit.

VON ANDREAS HILLGER | 03.10.2009, Mitteldeutsche Zeitung

DESSAU-ROSSLAU/MZ – Zwölf Uhr mittags in Dessau, High Noon vor dem Anhaltischen Theater. Auf der einen Seite stehen die glorreichen Sieben, fünf Schauspieler und zwei Musiker, gegenüber fröstelt ein Häuflein Publikum. So beginnt sie also, die 215. Spielzeit unter dem großen Transparent „Offenes Land“ – mit „Gesängen aus Tausend und Einer deutschen Nacht“, die sich an diesem Freitag wie ein vielfaches Echo über die Stadt ausbreiten sollen. Inszeniert hat der junge polnische Regisseur Krzystof Minkowski, ab 8. Oktober wird das Stück dann auch regulär im Spielplan des Alten Theaters stehen.

Vorerst aber kämpft die „Kleine weiße Friedenstaube“ unter dem freien Himmel gegen den Lärm der Autos an, während das „Funk“-Team die Gäste vor seinem Container mit Kamera und Mikrofon einfängt. Es ist – wie könnte es anders sein – ein politisches Programm, das dem Zuhörer da so freundlich entgegenkommt.

Der einstige deutsche Grand-Prix-Beitrag „Lass die Sonne in dein Herz“ schiebt in einer flotten Reggae-Fassung zwar zuverlässig die dunklen Wolken beiseite, zugleich aber dräut es düster aus den Liedern: „Warum lieben wir Deutschen Sissi so sehr?“, fragt man mit Funny van Dannen, „Warum mögen wir keine Juden?“. Bei Georg Danzer reimt sich „Gute Nacht“ auf „überwacht“ – und Georg Kreisler steuert eine schwarze demokratische Dialektik bei: „Meine Freiheit muss noch lang nicht deine Freiheit sein.“ Es wird den Zuhörern warm ums Herz, obwohl diese Lieder eher die alte Weisheit „Es ist deutsch in Kaltland“ beglaubigen. Aber die furchtlose Freude, mit der Susanne Hessel und Lisa Kudoke, Mario Janisch, Jan Kersjes und Mattieu Svetchine gegen die Leere und die Lethargie ansingen, überträgt sich als positive Energie auf das Publikum. Später, am Roßlauer Luchplatz, müssen Mütter ihre Kinder von der bunten Truppe wegzerren, wenn sie sich von der Kunst nicht an ihrem Feiertagseinkauf hindern lassen wollen. Vor dem Dessauer Hauptbahnhof wird exakt eine Straßenbahn zwischen die Bänkelsänger und die Punks passen. Und am Bauhaus schließlich wird die Gebäude-Brücke zwar vor dem Regen schützen, aber zugleich den kalten Wind verstärken.

Sei´s drum: Es ist eine Landnahme, die von Station zu Station besser funktioniert und auch die Dessauer Museumskreuzung, das Rathaus-Center und schließlich das Alte Theater erreicht. Dort endet dieser ersten Tag der neuen Ära mit einem Stück nach Einar Schleef, dessen Titel „Abschlussfeier“ wie ein Paradoxon wirkt. Denn eigentlich steht in diesen Tagen in Dessau alles auf Anfang: Heute abend wird die neue Hausregisseurin Andrea Moses ihre Lesart von Richard Wagners „Lohengrin“ präsentieren, morgen steuert der Generalintendant André Bücker seine Sicht auf Gotthold Ephraim Lessings „Nathan der Weise“ bei. Das Theater ist also schon da – jetzt muss nur noch die Stadt kommen.

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